Herzlich Willkommen!
Immer wieder habe ich mir vorgenommen, meine Gedanken aufzuschreiben. Sei es, weil ich sie für genial hielt oder nur als Erinnerungsstützen um mich vielleicht Jahre später an diesen zu amüsieren.
Heute ist wieder so ein Tag an dem ich bei einer Tasse Kaffee und, noch möglich, einer Zigarette im Gasthaus sitze, mir beim durchstöbern der Tageszeitung wieder einmal Magengeschwüre hole und beim Blick auf das Datum erschreckend feststelle, dass ich ja in ein paar Tagen meinen 45. Geburtstag begehen darf. Zeit also einmal das letzte Vierteljahrhundert Revue passieren zu lassen. Was dabei herausgekommen ist oder noch wird könnt Ihr auf den folgenden Seiten genießen.
Lebensabschnittsgefa(e)rtinnen (Leseproben)
Und so lautet ein Beschluss...
... das der Mensch was Lernen muss. (Max und Moritz).
Das der junge Chris sich später einmal für eine Zeit unweit des Ortes niederlassen würde, in welchem auch der gute alte Wilhelm Busch als Verfasser dieser zwei Zeilen gelebt hatte, konnte zu der Zeit in der wir uns in dieser Geschichte gerade befinden noch Keiner ahnen. Aber es kam auch bei ihm dazu, das nur knapp 3 Jahre nach dem Eintritt in den Kindergarten ein neuer Lebensabschnitt auf den jungen Knaben wartete. Ihr habt richtig geraten, die Schulzeit.
Bewaffnet mit Zuckertüte und Schulranzen konnte ich es kaum erwarten, die Vormittage mit Lesen und Rechnen lernen zu verbringen. Man sollte vielleicht hinzufügen, das die Zuckertüte schon am ersten Tag, bis auf einige Stücke lila Schokolade, welche den Weg durch den Eisernen Vorhang mittels eines sogenannten Westpaketes ins beschauliche Dörfchen am Ende der damals bekannten Welt gefunden hatten, restlos leergefuttert war.
Ja ich konnte süßen Sachen noch nie widerstehen. Heute wäre auch die lila Schokolade sicher schon in den Weiten meiner Verdauungsorgane verschwunden, damals hatte zumindest meine Mutter noch ein halbwegs wachsames Auge darauf, zumindest die gute Westschokolade einzuteilen. Wobei dies eher dem Umstand geschuldet war, das der Erwerb der selbigen sich im sozialistischen Alltag als eher schwierig erwies und sie somit ein rarer Artikel war, als dass sie sich um meine Ernährung Gedanken machte.
Als Schulkind war ich nun sechs Tage in der Woche Vormittags (ja ihr habt richtig gelesen, wir hatten noch Samstags Unterricht) in einem Gebäude untergebracht, welches sich ziemlich zentral in nähe der Kirche befand. Ich erwähne dies, da die Kirche als wichtiger Teil meiner nicht ansatzweise erfolgreichen katholischen Erziehung viel mit dem zu tun hat, warum ich so geworden bin wie ich bin.
Die Nachmittage verbrachte ich von Montag bis Freitag im Schulhort, welcher dem gleichen Komplex angehörte wie der Kindergarten nur ein Haus weiter. Das hieß, mein geliebtes Mittagessen von Tante Dortchen war gerettet.
Nur war dieser Ort des sinnlichen Genusses erst nach getaner harter geistiger Arbeit durch einen langen Fußmarsch zu erreichen, so dass mein Appetit eher noch stieg als in eine normale Bahn zu gelangen. Oma Ernas Kuchenstücke befanden sich dabei immer in meiner sogenannten Brotbüchse und dienten als Wegzehrung. Sie hatte anscheinend Angst, dass ihr Enkel ansonsten den langen Weg bis zum Ortsende nicht lebend überstehen würde.
Somit verblieben die ersten weiblichen Weggefährten auch im zweiten Lebensabschnitt noch erhalten. Sie sollten aber bald an Einfluss verlieren.
Mit Beginn des ersten Schuljahres wurde ich auch stolzer Jungpionier. Ich wurde da nicht gefragt, sondern man übergab mir mein Mitgliedsbüchlein mit den 10 Geboten der Jungpioniere und ein blaues Halstuch, gleichzeitig begann aber neben her auch noch der Religionsunterricht, welcher nicht wie heute durch einen staatlich ausgebildeten Lehrer sondern durch den Herrn Pfarrer selber durchgeführt wurde. Für mich war es selbstverständlich, mich aktiv an beiden Dingen zu beteiligen, da für einen siebenjährigen Buben zwischen Nächstenliebe und Freundschaft mit allen Völkern nicht wirklich ein Unterschied zu erkennen war. Außerdem ich war ja auch getauft. Auch da wurde ich nicht gefragt, sondern mir wurde, ich nehme an es war ähnlich wie bei meinem 6 Jahre nach mir geborenen Bruder, zwar kein Halstuch überreicht, sondern nur profan Wasser über den kahlen Schädel gegossen. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen beiden angebotenen philosophischen Einstellungen war jedoch nicht abzustreiten.
Von da an versuchte der kleine Chris nun nach 20 Geboten zu leben, 10 der Pioniere und 10 von meinem werten Herrn Pfarrer, um entweder, wie gefordert, später je nach Erfordernis ein guter sozialistischer Staatsbürger oder ein ehrfürchtiger Katholik zu werden. Ich nehme es vorweg. Ich wurde nichts davon.
Die ersten zwei Jahre gehörten jedoch erst einmal der katholischen Kirche. Ich muss schon sagen, dass die nachmittägliche Religionsstunde des Pfarrers M. höchst interessant erschien. Ich möchte mich an dieser Stelle nochmals bei meinen Eltern bedanken, welche mir, von Kindesbeinen an, die Abende mit dem Vorlesen und Erzählen von Geschichten versüssten, so dass meine bildliche Vorstellungskraft sukzessiv gestärkt wurde und ich während der religiösen Erzählstunde in meinen Tagträumen verharren und von der für mich fadisierenden realen Welt in die, von Jesus und seinen Jüngern entfliehen konnte. Die obligatorischen sonntäglichen Kirchenbesuche gehörten in unserem erzkatholischen Dörfchen natürlich auch dazu, schon um den "Waschweibern" (O-Ton Mama) keinen weiteren Stoff für die örtliche Wochenpost zu bieten.
Ja die Welt um mich herum war stinklangweilig geworden. Das Lesen und Rechnen lernen fiel mir leichter als erwartet und Fragen zu den mir damals wichtigen Dingen wurden nur teilweise und unbefriedigend beantwortet. Und in mir nagten die Fragen, wie Ratten an den Abfallbehältern amerikanischer Grossstädte, stets und ständig.
Nun gehörten meine Eltern auch nicht zum erlesenen Kreis der "normalen" Einheimischen. Meine eingeborene Frau Mama hatte es knapp ein Jahr vor meiner Geburt gewagt, einen noch dazu protestantischen Mann aus der Bezirksstadt zu ehelichen, welcher aus seiner realitätsnahen und dem schnöden Mammon eher abgeneigten Lebenseinstellung (er war Mitglied von einigen staatstragenden Organisationen und besass keinen Führerschein und daher kein Automobil) keinen Hehl machte und daher gerade für meine Oma und vor allem aber für meinen Onkel und Taufpaten nicht als Schwiegersohn bzw. Schwager taugte. Auch lag es ihm fern, sogenannte Bettelbriefe in den Westen zu schicken, um von dort Dinge zu erbitten, welche es eigentlich auch im sozialisten Kaufläden gab. Zwar für etwas mehr Geld, aber es gab sie. Ich kann mich noch gut an eine unserer Werkstunden in der Schule erinnern, in welchem wir aus einem Stück Plaste (in westdeutsch: Plastik) einen Becher formten und unser Lehrer zum Besten gab, dass in solchen Bechern Senf verkauft werde. Auf meinen Einwand hin, das es solchen in der DDR auch in Gläsern gäbe und diese aber halt im Delikatladen angeboten werden, gab es nur ein verächtliches "Da kaufen ja auch nur die J.`s ein". Mein Gedanke darauf, "Wir können es uns halt leisten" unterdrückte ich in Rücksichtnahme auf meine Werknote und meine Eltern.
Von den Intrigen, welche innerhalb unserer Familie gegen meinen Vater gesponnen wurden, bekam ich nur am Rande etwas mit. Die Folgen von dummen Gerede musste ich jedoch in Schule, Hort und später auch in der Kirche selber ertragen. Ich erspare Euch hier die Einzelheiten. So kam es, das mich meine "Weggefährten" immer weniger interessierten und ich mich häufiger in Bücher verkroch. Dieser Umstand beseitigte aber auf keinen Fall meine Probleme mit der Umwelt, sondern verschärfte nur noch die Rattenplage in meinem Kopf, da je mehr Fragen beantwortet wurden, doppelt so viele auftauchten. Einzig der Genuss von Süßem und der Besuch bei einer etwas jüngeren Nachbarin und meiner weitläufig als Kindergartenfreundschaft betitelten Klassenkameradin zeigte gelegentliche Linderung.
Mittlerweile mit, auf Grund meiner Leibesfülle und der wie gold gebackene Semmeln schimmernden Haarpracht, dem Spitznamen Schnitzel ausgestattet, schlitterte ich unaufhaltsam in Richtung Ende meiner Grundschulzeit.
19. Sep. 2019 um 15:28 Uhr
Kapitel Eins - Die Flegeljahre - (Ach du lieber Augustin)
#lebensabschnittsgefaehrtinnen
„Ach du lieber Augustin“
Inmitten der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, Göthe feierte gerade seinen 225ten Geburtstag oder auch nicht mehr, wir wollen da nicht so genau sein, schlüpfte in einem kleinen thüringischen Krankenhaus, ein nicht ganz leichtes aber doch noch zierliches männliches Wesen aus einer Körperöffnung einer jungen Frau.
Nämlich Ich.
Ich muss schon halbwegs zierlich gewesen sein, da ich bis heute ein paar dieser Öffnungen intensiver betrachten konnte, und ich mir immer noch nicht vorstellen kann, wie ich ansonsten durch diese kleine Multifunktionsöffnung eines weiblichen Wesens hätte gleiten können.
An die genaue Uhrzeit dieses Ereignisses kann sich noch nicht einmal meine Mutter erinnern und die anwesenden Damen und Herren der medizinischen Abteilung waren anscheinend entweder so fasziniert oder eher zu Tode erschrocken über den Anblick des herausgeschlüpften Häuflein Fleisches, das sie einfach vergaßen diese zu notieren. Es bleibt im Auge des Lesers die Hintergründe zu interpretieren, welche zum Ignorieren dieser wichtigen Information führte, für mich ist es ein miserabler Umstand, da sämtliche Astrologen seither daran scheitern, ein vollständiges Horoskop für mich anzufertigen. Eines kann ich mich aber seither rühmen. Ich war, bin und bleibe Jungfrau. Egal was ihr auch auf den nächsten Seiten zu lesen bekommt.
Da ich nach dem damaligen Wissen rund um die Anatomie eines Menschen noch nicht ganz korrekt fertiggestellt war, durfte ich die ganze erste Woche schon einen Gipsfuss tragen und wurde fremd ernährt. Ja, ich durfte nicht an der Brust meiner Mutter nuckeln sondern ertrug es meine Nährstoffe durch einen Gummiersatz zu beziehen. Was mich glaub ich nicht sonderlich störte aber vielleicht dafür ausschlaggebend war, das ich Frauenbrüste in nicht so üppiger Größe bis heute sehr interessant finde. Aber das nur am Rande. Hauptsache ich wurde satt und das war von Anfang an nicht einfach.
An die darauffolgenden ersten Monate und Jahre kann ich mich nicht mehr wirklich erinnern. Ich habe mir sagen lassen, das dies völlig natürlich ist und noch kein Anzeichen beginnender geistiger Umnachtung darstellt, was mich einerseits beruhigt andererseits auch schockiert. Warum fehlen einem so viele Momente im Leben? Wahrscheinlich um den Geist zu schützen, da bei völligem Erinnerungsvermögen ab Beginn, wenn ich auf die Kleinkinderzeit meines eigenen Nachwuchses denke, die völlig aus den Fugen geratenen Kommunikationsversuche der sogenannten Erwachsenen mit dem Neugeborenen, im Nachhinein sicherlich schwerwiegende Schäden im zentralen Nervensystem hinterlassen würden.
Meine eigenen Erinnerungsfetzen beginnen ab dem Kindergartenalter. Ja der gute alte Kindergarten. In dem von meinen Eltern ausgesuchten Ort meiner Kindheit, inmitten einer politisch motivierten Sperrzone, war dieser in einer von den Beschützern des antifaschistischen Schutzwalls aufgegebenen Soldatenbaracke untergebracht wurden. Ab dieser Zeit kann ich mich auch an die ersten wichtigen Frauen in meinem Leben erinnern. Die Eine hieß Oma Erna und war die Mutter meiner Mama. Oma Erna war irgendwie immer zu Hause und hatte ständig irgendwelche Kuchenstücke in der Küche. Die Andere, Tante Dortchen, war nicht Teil der Familie aber die Köchin im Kindergarten. Ihre Kochkünste sind für mich immer noch unerreichbar, vor allem aber bekam der junge Chris immer einen Nachschlag. So kann man verstehen, dass ich gern zum Kindergarten und auch wieder nach Hause zu Oma Erna ging. Liebe geht halt durch den Magen und bei so viel Liebe kam es das ich wuchs, ständig wuchs, mehr in die Breite als in die Höhe, aber wuchs.
17. Sep. 2019 um 00:17 Uhr